Hawaii liegt längst nicht nur im Pazifik, sondern auch in Heilbronn. Das Problemviertel der Stadt hat seit dem Debütroman von Cihan Acar Karriere gemacht. Erzählt wird die Geschichte des deutsch-türkischen Kemal, der eigentlich als Fußballprofi Karriere in der Türkei machen will.
Suhrkamp Verlag, 303 Seiten, 22 Euro.
Er taucht in gleich mehreren Romanen von «Abendland» über «Madalyn» bis zum «Joel Spazierer» und jetzt hier auf. Er ist meist eine Randfigur, die gleichwohl stets mit allen Protagonisten auf je eigene Weise in Kontakt steht. Ein Alter Ego des Autors darf man hinter der mitunter erratischen Figur vermuten, in der Köhlmeier indes nicht unbedingt eigene Erfahrungen verarbeitet, sondern sie vielmehr als Reflexionsfigur für alle möglichen Projektionen in den Raum stellt. Er denke sich ihre Funktion musikalisch, erklärt er, sie sollen „Gefühlsassoziationen“ wecken, die Stimmung für das Folgende vorbereiten.
Dabei legte er stets Wert darauf, den Charakter des Ausgangstextes zu erfassen. Wie zum Beispiel beim Gedicht „Das Blumenfest“, das aus dem Codex Florentinus von Bernardino de Sahagún stammt. Jahrhundert mit Texten über die Eroberung Mexikos und die Kultur der Azteken. November 2022 im Alter von 93 Jahren gestorben ist, liest Kerstin Bachtler. Das Leben ist Mühsal und Arbeit, erst recht, wenn man, wie William Stoner, als Sohn armer Farmer in Missouri geboren wird und die spätere Ehe ein Desaster ist. Doch es gibt die Liebe zur Poesie, zur Literatur und schließlich sogar eine romantische Liebe, die Stoner zumindest zeitweilig Glück bringt.
Sein Werk lässt dabei erkennen, dass beiden Seiten dieses Schriftstellers, dem Nacherzähler antiker Stoffe wie dem Schöpfer historischer Fiktionen, dieselbe Art des Erzählens als DNA zugrunde liegt. Es ist das Verfahren, improvisierend aus dem reichen Fundus der Überlieferungen zu schöpfen. Zeus, Hermes und Athene – in modernen Jugendbüchern sind die antiken Göttinnen und Götter quicklebendig. Was aber begeistert Kinder und Jugendliche an dieran Büchern? Lukas Meyer-Blankenburg hat sich auf die Spur gemacht und mit Jugendlichen, Mythenforschern, Lateinlehrern und Autorinnen gesprochen.
Auch in seinem aktuellen Roman zieht der österreichische Creador eine solche Ebene der narrativen Transformation ein. Allen dreizehn Kapiteln des Romans jedoch ist zum Auftakt jeweils ein Märchen vorangestellt. Und diera Texte, bei denen es sich zum Teil um Kunstmärchen handelt, zum Teil aber auch um jene Urstoffe, die etwa den Brüdern Grimm als Vorlage für ihre Bearbeitungen dienten, sollen nicht etwa Leseanweisungen für die folgende Kapitel darstellen.
Bruder Und Schwester Lenobel, Kapitel 100
Sollte Ihr Anliegen nicht dabei sein, finden Sie weitere Auskünfte zu Ihren Fragen auf unseren Serviceseiten. Man spürt jeder Satzkonstruktion, jeder eingesprengten Untererzählung die Lust am Fabulieren ab. Ich war von diesem Buch, das voller Tragik steckt und gleichzeitig voller hintergründigem Witz, regelrecht begeistert und habe mich über mehrere Tage von seiner erzählerischen Leidenschaft und seiner inhaltlichen und menschlichen Tiefe entführen lassen. Robert Lenobel, etwa 56 Jahre alt, Jude ohne spirituelle Heimat, arbeitet als Psychoanalytiker der klassischen Freudschen Schule unweit der ehemaligen Wirkungsstätte seines großen Lehrers. Sie führt zusammen mit einer Freundin die einzige jüdische Buchhaltung in Wien, obwohl beide nicht von Juden abstammen.
Mit Abendland war der Österreicher 2007 Finalist beim Deutschen Buchpreis und erhielt ein Jahr später den Bodensee-Literaturpreis. 2017 folgten der Literaturpreis der Konrad-Adenauer-Stiftung und der Marie-Luise-Kaschnitz-Preis. Aber auch Hörspiele aus Köhlmeiers Feder standen bereits auf Bestenlisten, für Theorie der völligen Hilflosigkeit erhielt der Autor 1993 den ORF-Hörspielpreis. Durch die 80-teilige Sendereihe Mythen – Michael Köhlmeier erzählt Sagen des klassischen Altertums bei BR-alpha ist sein Gesicht einem breiten Publikum bekannt. In den eigenartig verschlungenen Lebensgeschichten der allesamt therapiebedürftigen Familienmitglieder bleibt vieles rätselhaft, wobei alle Liebesabenteuer dadurch gekennzeichnet sind, dass die Initiative dazu immer von den Frauen ausgeht, – was für eine Macho-Fantasie! So ist auch Robert nach über zwanzigjähriger Ehe erstmals untreu geworden, weil eine attraktive Patientin ihm unverhohlen nachstellt.
Es sind düstere Märchen, nicht wenige handeln von einem krummen Deal mit dem Schicksal, wie das Märchen von Teufel und der Braut. Wenn er an das Haus seiner Kindheit denke, sei es aber nicht dieses, sagt Köhlmeier. Er hat es mit seiner Familie umgebaut, angebaut, im Garten steht ein Pavillon voller Bücher, eine gläserne Bibliothek. Vier Kinder haben seine Frau und er hier aufgezogen, eine Tochter ist 2003 mit 21 Jahren durch einen Unfall ums Leben gekommen. Er habe sich nie vorgestellt, wieder in seinem Elternhaus zu wohnen, sagt er. Aber dann musste seine sechsköpfige Familie von zwei Schriftsteller-Einkommen leben und das Haus stand leer.
Und die anderen Großeltern, die rechtzeitig vor den Nazis nach Palästina geflohen sind, haben sich 1967 in Israel gemeinsam umgebracht. Keine Frage, dass eine solche Geschichte bis in die zweite und dritte Generation der Nachkommen folgenreiche Auswirkungen hat. Jetti weiß aus Erfahrung, dass in ihrer Familie immer mit allem zu rechnen ist. Dass jeder Mensch seine ganz eigene Familienmythologie mit sich herumschleppt, von ihr inspiriert, ebenso aber getrieben oder verfolgt wird, auch davon handelt dieser herausragend erzählte Roman. Robert Lenobel, so viel darf man immerhin verraten, ist nicht tot, sondern taucht irgendwann an der Klagemauer in Jerusalem auf.
Süddeutsche Zeitung, 05092018
Das ist die schöne, bergige Gegend, in der der Rhein, bevor er deutscher Schicksalsfluss wird, muntere Schleifen zwischen Österreich und der Schweiz zieht. Er heißt dort „Alter Rhein“ und verschwindet bei Bregenz im Bodensee. Hier, in dem kleinen Ort Hohenems, ist Köhlmeier aufgewachsen. Hinter der Gartenmauer steht er und zupft an den Sträuchern, gebräunt, in hellen Sommerkleidern.
Jurek Beckers Roman «Jakob der Lügner» halte ich für eine der hintergründigsten Geschichten zu dem dort angesprochenen auch für SiN im Prinzip geltenden Tabuthema. Kein anderer mir bekannter Verfasser eines historischen Romans über den 2. Weltkrieg ist auf eine vergleichsweise annähernd ebenso geniale Idee gekommen, vermutlich auf einer wahren Episode beruhend. Im Gegensatz etwa zurvielgelesenen Kolportage von Schlink hielt ich dieses Werk als gymnasiale Klassenlektüre für geeignet.
Es ist Mai, Jetti lebt seit einigen Jahren in Irland, wo sie mit anderen eine erfolgreiche Kulturagentur betreibt, als sie von ihrer Schwägerin Hanna eine fast panische Mail bekommt. Sie soll sofort nach Wien kommen, ihr Bruder Robert werde anscheinend verrückt. Jetti fliegt nach Wien und findet ihre Schwägerin aufgelöst. Doch Jetti glaubt nicht daran, dass ihr Bruder verrückt geworden ist. Sie kennt ihre sehr ungewöhnliche jüdische Familie, deren bewegte und für alle folgenreiche Geschichte Köhlmeier in vielen Rückblicken erzählt. Das eine Großelternpaar von Robert und Jetti, die KZ-Großeltern, wie sie in der Familie seit jeher genannt werden, sind im Holocaust ermordet worden.
Bei all der herrlichen Literatur und Musik weltweit wäre mir meine Lesezeit dafür zu schade, vom kanonischem Potenzial der Textproben ganz zu schweigen. Und für eine Viertelstunde gepflegter Gehässigkeit tut es hervorragend eine alte Fips-Asmussen-Kassette. Köhlmeier nun zieht diese an sich bereits vielfältig verzwickte Geschichte keineswegs an einem Strang durch. Er verpackt sie zum einen in enigmatische Kunstmärchen, die jedem Kapitel vorangestellt sind und zum anderen in Kleinst-Exkurse, die jeder für sich goldwert sind.
«Im Kern einer jeden Geschichte sitzt ein Märchen» hat der Autor lapidar erklärt, – und dem ist nun mal das Böse immanent. Erfreulich ist die üppige Intertextualität in diesem Roman, in der schieren Überfülle des Erzählten aber fehlen oft die Verknüpfungen, und Vieles wird ganz einfach nicht stimmig zu Ende geführt, so auch die zentrale Geschichte mit Bess. Das Ganze erscheint mir narrativ hoffnungslos überfrachtet, das deprimierende Resümee all der klugen Reflexionen des – in dieser Hinsicht unübersehbar eitlen – Autors ist die Nichtigkeit unseres Glücksstrebens. Sein tragischer Held jedenfalls findet einfach nicht den Weg zu sich selbst, und auch die nachfolgende Generation taumelt gleichermaßen unschlüssig durch das Dilemma ihres Daseins. Köhlmeier sagt, dass er nie mit einem Thema oder einem Plot im Kopf zu schreiben beginnt, sondern mit den Figuren. Er redet über sie, psychologisiert, spekuliert, welche Zukunft ihnen bevorstehen könnte, als seien es Freunde, die er eine Weile nicht gesehen hat.